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Das Weihnachtsei
Das Haus in der Gartenstraße 75 ist eigentlich ein ganz normales Haus mit ganz normalen Menschen. So normal, dass sich kaum jemand kennt und wenn, dann eher vom Hörensagen bzw. gerüchteweise. Lucia wohnte schon ein paar Jahre dort, ohne die anderen Mieter je näher kennengelernt zu haben. Außer einem „Hallo“ oder „Guten Tag“ hatten sie sich nicht besonders ausgetauscht. Sie mochte den Charme dieses Altbaus – hohe Wände, das Knarren des Holzbodens und die nur 8 Mietparteien, die dort wohnten.
Diese waren wiederum so bunt gemischt, wie man es sich nur vorstellen konnte. Ein Bänker im Anzug mit seiner Freundin, Familie Sauer-Skonowski mit 2 Kindern – Tim Sören und Mia Charlotte. Die alte Oma Möller, die 3 Studenten, die dem Aussehen nach vermutlich im 20. Semester Kunstpädagogik studierten. Die Herren Busch und Seewald, von denen alle glaubten, dass sie Drogendealer oder Geldeintreiber sind, der Herr OBERStudienrat Pistorius (darauf legte er wert), Signore Rossino und natürlich Lucia. Sie alle hätten sich wohl nie kennengelernt, wenn es das Weihnachts-Ei nicht gegeben hätte.
Der Dezember hatte gerade begonnen als Oma Möller beschloss, ihren Lieblingskuchen zu backen. Johanna Möller war eine gute Hausfrau gewesen und hatte ihren Mann verwöhnt, solange er lebte. Sie fand das völlig in Ordnung. Zu ihrer Zeit war das eben so, sagte sie. Aber eben an diesem Sonntag fehlte ihr genau ein Ei, um diesen Kuchen zu backen. Natürlich hätte sie warten können bis zum nächsten Tag, aber es war der Geburtstag ihres Herrmanns und diese Tradition war ihr wichtig, auch wenn ihr Herrmann längst nicht mehr lebte. Da sie nicht mehr so gut zu Fuß war, klingelte sie bei Lucia. Sie war die nächste Nachbarin und würde ihr vielleicht bis zum nächsten Tag ein Ei borgen.
Als Lucia öffnete, staunte sie nicht schlecht. „Oma Möller“, sie korrigierte sich schnell, „ähm, Guten Tag Frau Möller.“ „Ach meine Liebe, mich nennen alle Oma Möller. Das weiß ich und das ist auch völlig in Ordnung“, antwortete die alte Dame, die stets ein Lächeln im Gesicht hatte, wenn sie jemand grüßte. „Würden Sie mir wohl ein Ei leihen?“, fragte sie. „Ein Ei?“, fragte Lucia verblüfft. Da es für sie noch keinen Zusammenhang gab, stutzte Lucia kurz, „Ach so ein Ei, ja klar. Ich schaue sofort mal nach.“ Oma Möller versuchte sich zu erklären: „Wissen Sie, heute hätte mein Herrmann Geburtstag. Da hab ich ihm immer einen Kuchen gebacken. Mir ist klar, dass er nicht mehr lebt, … aber mir ist es wichtig.“
Lucia hatte meistens Eier im Kühlschrank, aber ausgerechnet an diesem Sonntag – kein einziges. „Ich geh schnell zur Sauer-Family, die haben bestimmt welche. Warten Sie hier. Ich bin gleich wieder da.“ Die alte Dame war gerührt: „Das ist sehr, sehr nett. Schön, dass es heute noch so was gibt.“ Lucia stieg die Treppe hinauf und klingelte bei Familie Sauer-Skonowski. Tim Sören öffnete. Lucia mochte ihn nicht so sehr, da er meist sehr laut im Treppenhaus war, aber jetzt war Freundlichkeit gefragt. „Sind denn Deine Eltern da?“, fragte Lucia. „Mamaaa, Lucia ist da.“, rief Tim Sören lautstark in die Wohnung. Frau Sauer-Skonowski kam zur Tür. Sie strich ihrem Sohn über den Kopf und sah ihn streng an. Er schien es verstanden zu haben und lief in die Wohnung. „Könnten Sie mir wohl ein Ei leihen … also genauer gesagt Oma Möller?“, fragte Lucia vorsichtig. „Sie brauchen … also sie braucht nur ein einziges Ei?“, fragte Frau Sauer-Skonowski nach. „Ja, ich denke eines genügt. Sie möchte für ihren Mann einen Geburtstagskuchen backen“, erzählte Lucia. So kamen die beiden ins Gespräch … über Traditionen, Kuchen backen, die Vorweihnachtszeit und den verbrannten Geruch im Hausflur. Es roch plötzlich unangenehm und verbrannt im Treppenhaus. „MEINE KARTOFFELN“, rief Lucia plötzlich laut aus und lief die Treppe hinunter. Bei all dem Geplaudere hatte sie ihre Kartoffeln auf dem Herd vergessen und eine grau-blaue Rauchwolke kam aus ihrer Wohnung.
Als Lucia den Topf unter den Wasserhahn hielt, zischte es laut. Dafür hörte der stinkende Rauch auf und nach Öffnen des Fensters war die Küche schnell wieder begehbar. Auch die anderen Nachbarn hatten den Rauch bemerkt und sich nach und nach im Flur versammelt. Jeder fragte, ob alles in Ordnung sei oder Lucia Hilfe benötigte. Der alten Frau Möller war das Ganze sehr unangenehm: „Kindchen, das tut mir so leid. Und alles wegen meines Kuchens.“ Nun ging die Geschichte des fehlenden Eies durch das Haus. „Darf ich Sie denn alle auf ein Stück Kuchen einladen – als Entschädigung für den ganzen Ärger?“, fragte Frau Möller kleinlaut. Zu Kuchen wollte irgendwie keiner nein sagen. Frau Sauer-Skonowski brachte das ersehnte Ei und nachmittags traf man sich bei Oma Möller. Es waren zwar nicht genug Sitzplätze vorhanden, aber der Kuchen war sehr lecker. So unterhielt man sich im Stehen.
Es war erstaunlich… viele der Nachbarn, die sich vorher nie unterhalten hatten, tauschten sich hier aus, gingen zum „Du“ über und entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Aus „dem Bänker und seiner Freundin“ wurden Thomas und Anja, aus Familie Sauer-Skonowski – Ines und Bernd und selbst aus OBERStudienrat Pistorius wurde Gerald. Andy, Jan und Tim waren gar keine Studenten, sondern angehende Lehrer und die vermeintlichen Drogendealer entpuppten sich als Polizeischüler. Lucia spielte mit Tim Sören und Mia Charlotte, die nur noch Timmi und Mia waren. Als Lucia das kleine Hörgerät an Tims Ohr erstmals bemerkte, schluckte sie kurz. Sie verstand nun, warum er manchmal so laut sprach.
Dieses eine fehlende Ei … das Weihnachts-Ei hatte etwas im Haus verändert. Nun traf man sich häufiger, sprach miteinander. Aus Mietparteien waren Nachbarn und teilweise Freunde geworden.
Das Haus in der Gartenstraße war ein anderes. Und Oma Möller … wurde nun regelmäßig im Haus eingeladen – zu Kaffee und Kuchen.
(© Praxis Der Zuhörer – Steffen Zöhl, 2018) gewidmet Karen Rémy
Das Nuhrovia Team wünscht frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Bild: pixabay